
von Peter Rose
Memento mori – Gedenke, dass du sterblich bist. Dieser kirchlichen Mahnung, die den mittelalterlichen Menschen zu einem gottgefälligen Leben motivieren sollte, bedurften die in der Krisenzeit des späten Mittelalters Lebenden kaum mehr: Seit dem 14. Jahrhundert gab es eine Häufung von Naturkatastrophen mit Hungersnöten und sich ausbreitenden Seuchen, wie der Pest, die eine extrem hohe Sterblichkeitsrate in der Bevölkerung verursachten. Der „Schwarze Tod“ machte das Sterben zu einem ganz alltäglichen Ereignis. Jeder Mensch war sich damals bewusst, dass es auch ihn jederzeit dahinraffen konnte.
Individualisierung und Orientierungslosigkeit
Die zunehmende Bedeutung der Städte und der Geldwirtschaft sorgten im Spätmittelalter für gesellschaftliche Veränderungen. Durch das erstarkende Bürgertum in den Städten wurden die starren Standesgrenzen zwischen Adel, Klerus und Bauern durchlässiger. Der spätmittelalterliche Mensch definierte sich nun nicht mehr ausschließlich über seinen Stand, sondern auch über seine Leistung als Individuum. Diese Entwicklung verursachte Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Die Individualisierung der Menschen und ihre Hinwendung zum weltlichen Leben im Diesseits sorgten bei ihnen für zunehmende Zweifel über das eigene Schicksal im Jenseits. Dass es ein Leben nach dem Tode geben würde, war weiterhin gesellschaftlicher Konsens. Auch über die möglichen jenseitigen Aufenthaltsorte – Himmel, Hölle und dem zeitlich begrenzten Fegefeuer auf dem Weg dorthin – herrschte Einmütigkeit. Da aber niemand mit Sicherheit wusste, an welchen Ort er nach seinem Ableben gelangen würde und wie lange er im Fegefeuer ausharren müsste, war der kommende Tod die einzige Gewissheit.
Pessimistische Grundhaltung und Angst vor dem Tod
Die Sorge um das eigene Seelenheil trieb die Menschen deshalb besonders um – angesichts des allgegenwärtigen Todes in der unmittelbaren Nachbarschaft steigerte sich die Heilssorge oft in eine regelrechte Heilsangst. Die „letzte Stunde“ wurde im späten Mittelalter als eine Art Prüfung mit ungewissem Ausgang empfunden und gefürchtet. Diese Vorstellung verdrängte die bis dahin vorherrschende Erwartung des Jüngsten Gerichts in unbestimmter Zukunft. Der Tod wurde in seiner ganzen Drastik und Härte erfahren. Die Kirche war angesichts dieser weit verbreiteten Angst und Verzweiflung kaum mehr in der Lage, hinreichenden Trost zu spenden.
Das Bild vom Tod und dem heilsamen Sterben
So wurde der Tod mit all seinen Schrecknissen den Menschen im Spätmittelalter „multimedial“ anschaulich gemacht. In Predigten und literarischen Schriften wurde der Verachtung der irdischen Welt (Contemptus mundi), dem ständigen Gedenken des Todes (Memento mori) und einer daher notwendigen Lehre des heilsamen Sterbens (Ars moriendi) in Wort und Schrift Ausdruck verliehen. Den führenden Theologen der damaligen Zeit war es vermutlich wichtig, die Allgegenwart des Todes – ausgelöst durch Naturkatastrophen, Hunger, Epidemien, Krieg und Gewalt – plausibel in die christliche Lehre zu integrieren, damit diese glaubwürdig bliebe.
Lebende und Gesunde wurden auf den Tod vorbereitet
In der Sterbeliteratur der ars moriendi wird der Tod als das zentrale Geschehen im Leben dargestellt. Alles Entscheidende für das jenseitige Leben nach dem Tode wurde in die letzte Phase des irdischen Lebens – in die Sterbephase – verlegt. Somit wurde eingestanden, dass das irdische Leben trotz der Vorschriften und Gebote der christlichen Lehre eigentlich unzähmbar und unlenkbar war. Durch die Verlegung der Entscheidung über den weiteren Weg nach dem Tode erst an das Ende des Lebens förderte die Kirche – wenn auch ungewollt – eine bürgerliche Verweltlichung des christlichen Daseins. Warum, so werden sich die damaligen Zeitgenossen gefragt haben, sollte auch das ganze Leben christlich geprägt und gemäß den christlichen Geboten und Regeln durchstrukturiert sein, wenn sich der weitere Weg nach dem Tode doch erst auf dem Sterbebett entscheidet.

Für die große Anzahl der Kranken und Sterbenden gab es viel zu wenig Priester, die diese Menschen in ihrer letzten Stunde seelsorgerisch begleiten konnten. So ging die Kirche dazu über, schon die Lebenden und Gesunden in Predigten auf ihren Tod vorzubereiten. Handlungen und Rituale in der Todesstunde fanden bald als „Todesbüchlein“ auch unter Laien und Leseunkundigen weite Verbreitung. Die Vorstellung, ohne priesterlichen Beistand aus dem Leben zu scheiden, war für unsere Vorfahren sehr beängstigend, weil nach ihren damaligen Vorstellungen die Mächte des Bösen in den letzten kritischen Augenblicken eines Menschen noch einmal alles daransetzen würden, um mit List und Tücke seiner bald aus dem Körper weichenden Seele habhaft zu werden. Hier setzte der Sterbeleitfaden an: Als das wohl berühmteste Sterbebüchlein des 15. Jahrhunderts führt die so genannte „Bilder-Ars“ in elf Holzschnitten dem Betrachter drastisch vor Augen, um welche teuflischen Listen es sich bei diesen Versuchungen wohl handeln würde und wie man sich gegen diese zur Wehr setzen konnte. Der Sterbende ist als ein Mann in den besten Jahren dargestellt, mit dem sich viele leicht identifizieren konnten. Hatte man sich die elf Illustrationen ein paar Mal angesehen, kannte man deren Inhalt schnell auswendig. Wenn man dieses schon in jungen Jahren tat, war man anschließend ein Leben lang für den letzten Kampf gerüstet und brauchte sich in der Sterbestunde nur so zu verhalten, wie es im Leitfaden anhand des sterbenden „Jedermanns“ beispielhaft zu sehen war.
Die Tabuisierung und Wiederentdeckung des Todes
Der Tod wird bis heute in den westlichen Industriegesellschaften tabuisiert und quasi ausgeblendet, während er im Mittelalter omnipräsent war und daher kaum ignoriert werden konnte. Der mittelalterliche Mensch musste sich bei Zeiten mit Tod und Jenseits auseinandersetzen und der bevorstehende eigene Tod wurde als integraler Bestandteil des Lebens angesehen und akzeptiert. Sterben war im Mittelalter kein Akt im Verborgenen, sondern fand öffentlich statt – die Menschen waren bestrebt mit Anstand und Würde zu sterben. Mit dem Wissen um seinen nahenden Tod nahm der mittelalterliche Mensch „sterbend die Regie seines Sterbens in die Hand“.
Der heutige Mensch hat diese Regie weitgehend an die Medizin und ihre Apparate abgegeben – das Sterben findet in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Kliniken und Pflegeheimen statt. Es scheint aber, dass hier langsam ein Diskurs über den Sinn und Unsinn lebensverlängernder, respektive das Sterben hinauszögernder Maßnahmen in Gang kommt. Der Wunsch todkranker Menschen, zu Hause im Kreise ihrer Angehörigen zu sterben, wird zunehmend größer und mittlerweile auch öfter erfüllt. Einen allgemein anerkannten Leitfaden für das „richtige“ Sterben wird es in unserer pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft wohl nicht mehr geben können, aber wenn wir uns auch zu Lebzeiten schon mit dem Tod auseinandersetzen und ihn enttabuisieren könnten, wäre ihm vielleicht einiges von seinem Schrecken genommen.
Über den Autor:
Für den Historiker und Autor des Blogs sauseschritt.net Peter Rose liegt die Faszination des Themas in dem scheinbaren Paradoxon begründet, „dass die nach weitverbreiteter Meinung ‚unaufgeklärten‘ Menschen des häufig als ‚finster‘ bezeichneten europäischen Mittelalters in mancher Hinsicht ‚aufgeklärter‘ und vorausschauender waren, als es die Menschen in Europa heute sind – zumindest was das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, der rechtzeitigen mentalen Vorbereitung auf den Tod und der Auseinandersetzung mit einem möglichen ‚Danach‘ angeht.“